A & O
Jost Wischnewski
LOGIK DES LAUFS
Galerie Randlage, Worpswede 2020.
Logik des Laufs
Nähern wir uns den Arbeiten des Bildhauers, Installations- und Medienkünstlers Jost Wischnewski, begegnen wir einer Ansammlung von uns vertrauten Zeichensystemen, wie Buchstaben und Symbolen oder Verkehrssignalen und Bemalungen, die wir von Straßen oder Flugfeldern kennen. Die Anordnung dieser Zeichen können verwirren, folgen sie doch keiner sofort begreifbaren oder erkennbaren Systematik. Markierungen von Straßen führen manchmal über Wände und um Ecken, solche von Parkflächen überschneiden sich und lassen erkennen, dass diese nicht zielführend dem eigentlichen Zweck zugeordnet werden sollen.
Möchten wir die Ausstellung im KW/RANDLAGE besser verstehen, verweist bereits der Titel „Logik des Laufs“ auf eine Forschungs- und Sichtweise des französischen Philosophen Paul Virilio. Dieser begründete die Dromologie, einer aus zwei Worten zusammengesetzten Bezeichnung (zum einen des altgriechischen dromos, welches Rennbahn bedeutet und logos gleich Wissenschaft) und in der weiterführenden Übersetzung „Logik des Laufs“ heißt. Angeregt durch dessen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit untersucht auch Wischnewski das Verhältnis von technischem zu einem vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritt in seinen fotografischen und installativen Arbeiten.
Geschwindigkeit ist uns als Beschreibung für die Schnelligkeit, für das Tempo eines bestimmten Körpers von einem Ort zum anderen bekannt, beinhaltet aber auch die Richtung der Bewegung. Mal geht sie voran, mal zurück, mal zu einer Seite, mal in die Höhe oder in die Tiefe. Geschwindigkeit ist jedoch nur vordergründig das Ergebnis, beziehungsweise der Betrag einer messbaren Schnelligkeit eines Körpers in Bezug auf eine bestimmte Wegstrecke vom Anfang bis zum Ende von sich verändernden Orten, also von einer bestimmbaren Zeitspanne. Geschwindigkeit erzählt somit im weitesten Sinne vom Verbrauch der Zeit, von ihrem Lauf. Geschwindigkeit kann auch die Zeit bedeuten, in welcher eine bestimmte Information vom Sender zum Empfänger benötigt, ebenso kann Geschwindigkeit als das angesehen werden, in der sich technologischer Fortschritt oder der Wandel soziokultureller Verhältnisse unserer Gesellschaften vollzieht.
Aus einem zunächst klar definierten Betrag kann so auch etwas Undefinierbares entstehen, sodass Geschwindigkeit einen emotionalen Bezug erhält und als Bauchgefühl für den Zeitraum einer Veränderung steht.
Wir spüren sicher alle verschiedenartige Geschwindigkeiten, sprich Beschleu-nigungen und Bewegungen. Wenn sich die Wartezeit verlängert und einen zuvor festgelegten Rahmen verlässt, wenn wir von der Verspätung eines Zuges oder Fluges erfahren, reagieren wir mit Nervosität, was zu mancherlei Stress-symptomen führen kann. Durch die Zunahme von sich abweichenden Geschwindigkeiten divergenter Bereiche und Wahrnehmungen geraten wir schnell in ein Ungleichgewicht und erleben eine Unsicherheit, die sich stets dann verstärkt, wenn sich verschiedene Systeme überlagern.
So mögen gerade diese Überlagerungen in den Werken von Wischnewski auf einen Zustand in der Welt verweisen, in denen Fortschritt und Geschwindigkeit zu einem Missverhältnis führen. Und wenn sich einzelne Bereiche, wenn sich politische Ereignisse überschneiden, verschwimmt schnell die Grenze all dessen, was wir zuvor so fein als Zahl auf einem Tacho ablesen und sogleich einordnen konnten.
Aus einer vornehmlich schnellen Bewegung nach vorne kann daher auch ein Verharren im Moment werden oder, wie es Virilio ausdrückte, es zum Dromologischen Stillstand kommen, den er als widersprüchlichen Effekt der Selbstblockade verstehen wissen möchte. Virilio geht noch weiter und erforscht Geschwindigkeitsverhältnisse historischer und politischer Verhältnisse und erkennt, dass Geschwindigkeit sich als eine Seite von Reichtum und Macht offenbart, welche die Geschicke unserer Gesellschaft bestimmt.
Nimmt die Geschwindigkeit zu, wird der Raum zwischen zwei Orten geringer und wird dauerhaft und bei weiterer Zunahme an Geschwindigkeit gänzlich verschwinden. Und wird Raum vernichtet, wird auch die Zeit verdichtet. Virilio bezeichnet dieses Verhältnis als das verhängnisvollste Phänomen des 20ten Jahrhunderts. Das Paradoxon von Raum und Zeit lebt in vielen der Werke von Jost Wischnewski auf. Und so zeigt er mit aller Ernsthaftigkeit, wie sich multiforme Geschwindigkeiten auf abstruse Weise in unser Leben schneiden, wie sich Fortschrittsglaube und die Sehnsucht nach Entschleunigung widersinnig überlagern und bohrt immer wieder mit Humor in die Wunden unserer Unzulänglichkeit.
Volker Schwennen 2020